Musik der Pflanzen

 Es war einmal in einem völlig unbekannten Reich, voller fremder Rhythmen und Refrains. Wir befinden uns im akustischen Reich der Pflanzen. Oh ja, Pflanzen tönen. Na eigentlich rauschen sie. Hast Du schon einmal im Frühling mit einem Stethoskop an einen Baum gelauscht? Was man hört, ist wortwörtlich berauschend, denn an warmen Tagen im Februar oder März hört man den Wassersog, der von den Wurzen nach oben in die Knospen zieht. Das klingt in wenig wie einlassendes Badewasser und doch ist es so viel mehr: Der wohl kraftvollste Prolog in der Musik des Lebens. Dort oben in 15 Meter Höhe ist eine Knospe, die ihre Knospenhülle sprengen möchte und dafür Wasser braucht. Und da unten, direkt unter mir oder einige Meter entfernt steckt das Wasser im Lößboden, der es wie ein Schwamm festhält, doch die feinen Haarwurzeln schaffen es, dem Lößboden das Wasser zu entreißen, ziehen es, Molekül für Molekül, aus dem Boden in die feinen Kanäle der Wurzeln, weiter in die Hauptwurzeln, bis zum Stamm, dann greift eine ganze Weile noch die Kapillarkraft, saugt das Wasser nach oben, der Schwerkraft entgegen. Doch irgendwann kommt der Punkt, da die Pflanze das Wasser gegen die Schwerkraft transportieren muss. Der mächtige Sog unzähliger Knospen, die erpicht darauf sind, sich endlich zu entfalten und sich der Sonne zu präsentieren, der unbändige Wille nach Leben, überwindet die Schwerkraft. Leben! Leben ist die mächtigste Kraft auf Erden. Wir Lebewesen dürfen wenigstens eine kurze Zeit lang mit dem  Universum mithalten und mitspielen im Reigen des kosmischen Geschehens - ob Mensch oder Baum. Wir sind hier. An diesem Ort und spielen mit! Und so saugt der Baum das Wasser 15 Meter hoch oder höher in jede einzelne Zelle, die sich ausdehnt und entfaltet, bis das Blatt die Knospe sprengt und sich endlich der Sonne präsentieren kann. Ab diesem Moment wird aus Licht Leben. Für uns alle. Und das alles hört man im Rauschen durch das Stethoskop, wenn man gelernt hat, zuzuhören. 

Bereits ein paar Tage später hört man die zweite Musik der Pflanze: das Rauschen der Blätter im Wind. Nun brauch man kein extra Gerät mehr. Man hört das Rauschen auch so, mal sanft, mal wild. Es verändert sich im Laufe des Jahres. In Frühling mischen sich ins sanfte Rauschen der zarten, weichen Blätter noch die harten Töne der Äste ein, die den Wind brechen. Doch das ist nur von kurzer Dauer. Bald schon sind die Blätter in der Überzahl und überdecken dieses Pfeifen. Zum Rauschen der Blätter kommt ein Rascheln, erzeugt durch die zunehmende Stabilität der Blätter, die nach Beendigung des Wachstums ihre Strukturen verstärkten. Dieses Rauschen mit dem sanften Rascheln bleibt bis zum Herbst. 

Dann zieht der Baum alles Wasser zurück. Die Blätter trocknen. Zurück bleiben die harte, saftlose Strukturen. Das Rauschen verschwindet und das Rascheln wird stärker. Es klingt, als würde man durch einen Berg von zerknülltem Geschenkpapier laufen. Zum Rascheln kommt ein sachtes Knistern, das Kinder jauchzen, klatschen und den Herbst feiern lässt, wenn sie durch getrocknetes herab fallendes Laub hüpfen und sich daran erfreuen. Wenn sie wüssten: Sie jubeln der Oper der Bäume zu. Standing ovations. Aber vielleicht wissen sie das auch intuitiv? Sie verabschieden sich herzlich in und bei der Natur für dieses wunderbar berauschende Jahr. Schlaf gut und dankeschön. 

Und dann wird es leise. Der Winter ist die Zeit der Stille. Gelegentlich hört man den Wind durch die Äste pfeifen, hart gebrochen, schnittig,  kalt. Gelegentlich hört man die Äste knarren, ächzend, stöhnend, ein kurzes Aufbäumen aus dem Winterschlaf, unsanft geweckt, durch einen eisigen Sturm. Die Natur probt das nächste Stück, tief unter unseren Füßen. Sie schläft nur scheinbar.

All das war bislang für mich die Musik der Pflanzen. Eine Oper der Bäume. Es ist eine ganz eigene Melodie, von Rauschen, Rascheln und Knistern. Doch ich wollte mehr. Ich bin ein Natur-Opern-Junkie. Walgesänge, Vogelzwitschern, Wasserfall oder Meeresrauschen aber vor allem das Rauschen der Bäume. Gab es da noch mehr? Musik ist eine universelle Sprache. Jeder spricht sie auf seine Weise. Und so kam ich zu Musik der Pflanzen. Das Gerät von Music of the Plants vergleiche ich gerne mit einem Übersetzer, denn es übersetzt elektrische gemessene Signale der Pflanzen in Musik. Natürlich gibt die Musik nicht das Gefühlsleben der Pflanzen direkt wieder. Indirekt? Vielleicht. Was sagt Dein Pulsschlag über Dein Gefühlsseben aus? Schnelle Herzschläge können Wut, Liebe, Angst oder freudige Erregung anzeigen. Eine ziemlich weite Spanne. Ohne Dich also zu kennen, könnte ich Dir anhand Deiner Pulsfrequenz nicht sagen, wie es Dir geht. Dennoch kann es sehr beruhigen für mich selbst sein, einem Herzschlag zu lauschen, vor allem wenn dieser ruhig und harmonisch ist. Doch das ist subjektiv empfunden. Dennoch bewirkt es etwas bei mir, verändert mein Denken und meine Gefühle. Und so lausche ich der Musik der Pflanzen, froh einen neuen Weg gefunden zu haben, meine Welt wahrzunehmen, meinen Horizont zu erweitern und meine eigenen Sichtweisen zu hinterfragen. So stehe ich heute wieder vor den Bäumen und bin fasziniert sie ganz neu kennenzulernen, aber vor allem bin ich eines: dankbar.

Wahrscheinlich hast auch Du Bäume unterbewusst in irgendeiner Form wahrgenommen, aber noch nie Deine Aufmerksamkeit in dieser Weise auf die grüne Geräuschkulisse gelenkt. Ich kann Dir nur den Tipp geben: Mach das mal. Führe ein Geräuschetagebuch oder mache einen Monatseintrag in Dein eigenes Tagebuch. Du wirst überrascht sein, wie sich Deine Umgebung und die Geräuschkulisse verändern. Du wirst Dinge wahrnehmen, die Du bislang ignoriert hast. Du entwickelst eine Fähigkeit weiter, die den meisten Menschen zunehmend verloren geht: Zuhören.